top of page

Prachtmeile im Wandel: Wie sich die Friedrichstraße verändert hat


Schon mal gehört? Marlene Dietrich: „Untern Linden, untern Linden geh’n spazieren die Mägdelein. Wenn du Lust hast anzubinden, dann spaziere hinterdrein. Kommst du an bei Café Bauer, sagt sie dir noch: Ich bedauer! Bist du am Pariser Platz, schwupp, da ist sie schon dein Schatz!“

Oder: „Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm, ich hab so Sehnsucht nach meinem Berlin.“ Das sang Hildegard Knef.

Und die Friedrichstraße? Konnte sich keiner einen Reim darauf machen? Sie hat doch eine lange Geschichte, ging kaputt in Kriegen, wurde aufgebaut, wieder abgerissen, politisch geteilt und gefährdet. Ich wohne in der Nähe vom Oranienburger Tor. Es heißt, dass die Friedrichstraße an Bedeutung verliert. Ich will es selber sehen und laufe los.

Bis zum Mauerfall blieb die Friedrichstraße geteilt

Auf der rechten Seite steht die Dreispitz-Passage, eigentlich beste Lage. Von außen kann der Kunde noch bei Ulrich Moden und in einem Blumenladen einkaufen. Drinnen präsentiert ein Pianocenter Flügel und Klaviere, ein kleiner Kosmetikladen ist noch da. Sonst nichts. Außer mir ist niemand unterwegs. Wände und Decken sind aus Glas, wer bezahlt den Fensterputzer?

Bis zum Mauerfall 1989 wird die Friedrichstraße geteilt bleiben: Im Norden gehört zu sie zum Ost-Berliner Bezirk Mitte, im Süden zum West-Berliner Bezirk Kreuzberg.

„Bahnhof Friedrichstraße! Bitte alle aussteigen. Zug endet hier!“

Die halbe Klasse flüchtet über den Bahnhof Friedrichstraße

Aus meiner Schule, der EOS Max Planck, flüchtet 1964 fast eine halbe Klasse über diesen Bahnhof. Die Jungs klettern auf den Bahndamm und verstecken sich in der Brückenkonstruktion. Von dort laufen sie auf die Gleise und springen auf den Moskau-Paris-Express auf, wenn der in Richtung Zoo anfährt. Am 30. Januar wollen auch Kalle und Frank weg. Weil sich Grenzsoldaten nähern, bleiben sie länger im Versteck, der Zug wird schon schneller.

Frank schafft es auf das letzte Trittbrett, Kalle schafft es nicht. Er springt sieben Meter tief auf die Straße, bricht sich die Füße, das rechte Handgelenk, mehrere Rippen und schleppt sich blutend nach Hause. Die Eltern bringen Kalle ins Krankenhaus und erfinden eine Ausrede.

Am nächsten Tag wird Holger fliehen. Für den Westen zieht er die besten Klamotten an und spitze Schuhe. Er springt auf den Zug, verliert einen Schuh und kommt äußerlich anders als gewünscht im Westen an. Im Osten wird der verletzte Kalle eine Woche später verhaftet – sechs Monate Gefängnis.

Kurfürstendamm 1955: „Ein Aushängeschild verblasst!“

Die Friedrichstraße ist fast so lang wie der Kurfürstendamm: 3,3 Kilometer gegen 3,5 Kilometer. Sie sind aber unterschiedlich breit. Die Friedrichstraße ist mit 15 bis 17 Metern ziemlich schmal. Für den Kurfürstendamm wurden 53 Meter zwischen den Fluchtlinien der Häuser festgelegt: 13 Meter Gehweg auf beiden Seiten, zweimal neun Meter Fahrbahn und neun Meter Mittelstreifen, früher war der ein Reitweg.

Im Juni 1995 habe ich eine Reportage über den Kurfürstendamm geschrieben. Es ging ihm nicht gut. Die Nervosität begann mit einem „Plötz-Immobilienbrief“ von Werner Plötz – „Kurfürstendamm: Verlierer der deutschen Einheit“. Er sagte den Werteverfall der Immobilien voraus, den Ladenleerstand und Siegeszug von Billigketten.

Die Zeitungen reagierten: „Ein Aushängeschild verblasst!“ „Piefke und Protzke erobern den Kudamm!“ „Kudamm Lichter aus. Im Osten geht die Sonne auf!“ Das war der Punkt. Der Osten. Plötzlich. Ein Verlierer als Konkurrent. Heute sieht es wieder ganz anders aus. Die Lage hat sich gedreht.

Der Kurfürstendamm döste in Wartestellung

Ich lief damals über den Kurfürstendamm und versuchte, die Situation nach dem Mauerfall einzuschätzen: Ende der Berlin-Förderung, Mietsteigerungen bis zu 500 Prozent. Vom Adenauer- bis zum Wittenbergplatz standen 100.000 Quadratmeter Bürofläche leer. Über 60 Prozent der Einzelhändler hatten aufgegeben. Die Straße döste in Wartestellung – wann kommt die Regierung, kommen Industrielle, Medienleute, Nachfolgetrosse und Lobbyisten?

Die AG City tagte mit 180 Geschäftsleuten. Als ein Gast von der Forschungsstelle für den Handel ein strahlendes Bild vom Kurfürstendamm entwirft und ein schattiges von der City Ost, ruft ein Hoteldirektor: „Uns geht’s doch heute schon beschissen! Alle Finanzkraft ist abgezogen und in den Osten marschiert!“ Der Stadtrat für Wirtschaft sekundiert: „Der Markt ist aus den Fugen!“ Ein Musikalienhändler kritisiert Behördenstarrsinn – „aber einen Marshall-Plan für die Friedrichstraße!“ Ein Juwelier spielt mit dem Gedanken, drüben eine Filiale zu eröffnen. Kurze Verstörung.

Neue Debatte: Ist die Stadt groß genug für zwei Citys?

Manchen gefällt die Vorstellung, dass die Demonstranten bald über die Friedrichstraße laufen und da Steine werfen werden. „Dann wird es hier wieder fein“, sagt der Geschäftsführer eines Szene-Lokals. Aber die Konkurrenz zwischen beiden Straßen begann früher.

Eine Querstraße für Ehefrau Dorothea

Am Ende des Dreißigjährigen Kriegs ist die Residenzstadt weitgehend zerstört. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm lässt 1674 die Straße Unter den Linden anlegen und zerstörte Anlagen aufräumen. Er schenkt seiner zweiten Ehefrau Dorothea das Cöllnische Vorwerk zwischen der Festungsmauer und dem Großen Tiergarten. Das Gebiet bekommt ein rechtwinkliges Straßennetz und heißt ab 1681 „Dorotheenstadt“.

Eine wichtige Straße ist die große Querstraße. Sie reicht von der Weidendammer Brücke bis zur Behrenstraße. Kurfürst Friedrich III., der spätere Soldatenkönig Friedrich I. und der erste König in Preußen, wünscht 1701 ein neues Stadtviertel. Er befiehlt, die Querstraße umzubenennen und soll das so formuliert haben: „Was heißt hier Querstraße? Ein anständiger Name muss es sein – der meinige.“ Friedrich.

Erst Wohnstraße, dann Einkaufs- und Amüsiermeile

Neben dem Bahnhof Friedrichstraße, Richtung Linden, lag zu Ostzeiten grüner Rasen. Der Filmautor Wolfgang Kohlhaase hatte von seiner Wohnung in der Mittelstraße freie Sicht. Dazwischen stehen längst hohe Häuser – Geschäfte, die Sparkasse, das nh-Hotel. Hier wie im Maritim-Hotel finde ich Gesprächspartner, die mit ihren Unternehmen an der Straße zufrieden sind. An der Rezeption liegen Wegweiser für die Umgebung – Brandenburger Tor, die Museumsinsel, Friedrichstadt-Palast, Gendarmenmarkt, Staatsoper, Berliner Ensemble, alles ist zu Fuß zu erreichen.

Die Zimmer sind nicht teuer: um die 100 Euro im Zentrum, das gilt in der Branche als sehr günstig. Es kommen Touristen, Messen und Konferenzen. „Wenn die Belegungen nicht nach oben gingen, würden wir was falsch machen.“

1913 ist Berlin die drittgrößte Stadt in Europa, nach London und Paris. Mehr als vier Millionen Menschen leben in ihrem Großraum. Die Friedrichstraße verwandelt sich von einer Wohnstraße in eine Einkaufs- und Amüsiermeile. Und in ein Zentrum der Prostitution. 1918 schreibt der Philosoph Martin Heidegger seiner Frau: „Eine solche Luft künstlich hochgezüchteter, gemeinster und raffiniertester Sexualität hätte ich nicht für möglich gehalten.“

Puffs und Stundenhotels. Strichjungen, minderjährige Prostituierte. Taschendiebe, Drogenhändler. Der Star auf Berlins Bühnen ist Anita Berber. Die Tänzerin trinkt Cognac wie eine Verdurstende aus der Flasche, nimmt Drogen. Otto Dix malt sie 1925: ausgezehrt, eingefallen, blutroter Mund, blasser Teint, dunkle Augen. Ihr Körper ist nackt, wie so oft. Drei Jahre später wird sie sterben, mit 29 Jahren.

„Hinter sittsamer Kulisse“ Das war das lasterhafte Berlin der 30er-Jahre

Der Schriftsteller Franz Hessel schreibt über die Friedrichstraße 1929 in „Ein Flaneur in Berlin“: „Das war einmal das Zentrum der berlinischen Sündhaftigkeit. Das schmale Trottoir war mit einem Teppich aus Licht belegt, auf dem sich die gefährlichen Mädchen wie auf Seide bewegten ... In der heutigen Friedrichstraße geistert wenig von dieser Vergangenheit. Ihr Nachtleben ist ja längst von dem westlichen Boulevard überboten.“

Curt Morecks „Führer durch das lasterhafte Berlin“ von 1931 gewährt der Friedrichstraße nur noch einen „gewissen musealen Reiz“. Wittenbergplatz, Halensee, Tauentzienstraße und Kurfürstendamm seien „ganz Neuzeit, ganz Gegenwart“.

Die Konkurrenz zwischen Kurfürstendamm und Friedrichstraße wird ein Thema. Dann kommt der Krieg.

Blick in die Friedrichstraße.  Foto: A. Strebe

Blick in die Friedrichstraße.

Foto: A. Strebe

2019 lautet die Devise: „Big sexy Sale“

Februar 2019, es ist die Zeit der Saisonräumungen. Hinter dem Bahnhof Friedrichstraße bietet Hammerschuhe 50 Prozent, Hunkemüller bis 70 Prozent „Big sexy Sale“. Im Leihhaus gibt es 30 Prozent auf Silber. Leere Läden. Bei Tamaris Lagerräumung bis zu 50 Prozent. Eine Schuhverkäuferin erzählt, wie stark der Umsatz durch die Baustelle vor der Tür und Demonstrationen absinkt. „Wir haben Angst vor Entlassungen.“ In feineren Läden liegt ein Schildchen im Fenster: „Sale inside“.

Hinter der Straße Unter den Linden läuft ein „Großer Lagerverkauf“ für Porzellan. Bei Boss hat ein Mann, ein schnell gefasster Drogensüchtiger, die Tür eingetreten. Dem Bocca di Bacco geht es gut, „aber die Lage wird schwieriger“.

Im Russischen Haus arbeiten heute am Vormittag Handwerker im Hintergrund. Ein paar Besucher sehen sich um. Alles ist so riesig. Funktioniert das Haus? Der Concierge liest aus seinem Buch ab: „Besucher pro Tag im Januar zwischen 180 und 1.307.“ Die meisten gehen zu Konzerten, Balletts und Ausstellungen. Mieter im Russischen Haus sind Bucherer und Escada, teure Marken. Bei Escada gibt es 30 bis 50 Prozent Rabatt. Sorgen haben die beiden Verkäuferinnen nicht. Sie vertrauen den Stammkunden. Inzwischen kommen auch chinesische Touristen. Die sind so zierlich, dass ihnen selbst die kleinen Größen nicht passen. „Sie kaufen dann eben Tücher und Taschen.“

1945 sind von den 235 Häusern des Kurfürstendamms 190 Häuser total zerstört. Auf der Friedrichstraße bleiben nur nördlich der Spree einige geschlossene Häuserfronten erhalten. Ost und West räumen die Trümmer weg und bauen neu, ohne großes Interesse aneinander.

Im Osten wird 1955 in der Friedrichstraße das Haus der Tschechoslowakischen Kultur und 1956 das der Polnischen Kultur eröffnet. Unter den Linden/Ecke Friedrichstraße (früher Kranzler) entsteht 1966 ein Appartementhaus und an der Stelle des ehemaligen Cafés Bauer das Lindencorso. 1966 wird das Hotel Unter den Linden fertig, 1978 das Internationale Handelszentrum, 1984 das Haus der Sowjetischen Wissenschaften und Kultur und der Friedrichstadt-Palast, 1987 das Grandhotel.

Und dann fällt 1989 die Berliner Mauer

Die Friedrichstraße soll wieder ein großstädtischer Boulevard werden. Im selben Jahr beginnt der Bau der Friedrichstadt-Passagen. Architekt ist Manfred Prasser, ein hochverdienter Mann mit dem Konzerthaus, dem Großen Saal im Palast der Republik und dem Friedrichstadtpalast. Von seinem Bürofenster kann er sehen, wie die Friedrichstadt-Passagen wachsen, Hausnummern 205 bis 207. Im Herbst 1989 sind sie zu 60 Prozent fertig.

Im Herbst 1989 dreht Peter Kahane seinen Spielfilm „Die Architekten“. Eine Szene spielt direkt am Bahnhof Friedrichstraße – sie zeigt die Ausreise der Filmfigur Wanda mit den Kindern. Während der Dreharbeiten laufen echte Ausreisende an der Kamera vorbei in die große Glashalle.

Bald danach fällt die Mauer. Ein Jahr später gibt es das ganze Land nicht mehr. Manfred Prasser kann 1990 von seinem Bürofenster beobachten, wie der Bau eingestellt wird. Für 85 Millionen D-Mark hat ein französisch-amerikanisches Konsortium die Rohbauten gekauft, um sie 1992 abzureißen. Und dann werden sie doch wieder aufgebaut. Aber anders.

2011 wird das Objekt nach wirtschaftlichen Schwierigkeiten unter dem Namen The Q vermarktet, 2015 übernimmt ein amerikanischer Entwickler das Quartier 205. Das daneben liegende Quartier 206 – Auftraggeber war die Familie Jagdfeld – steht seit 2011 unter Zwangsverwaltung. Mieter wie Gucci, Yves Saint Laurent und Louis Vuitton sind ausgezogen. Galeries Lafayette, das Quartier 207, übernimmt die Allianz Real Estate 2012 von einer luxemburgischen Fondsgesellschaft.

„Touristen brauchen keinen Maßanzug“

Hinter der U-Bahn-Station Stadtmitte sind weniger Kunden unterwegs, die Geschäftsleute haben eine Erklärung: Die Mall of Berlin in der Leipziger Straße. Der geht es zwar auch nicht gut, aber sie schöpft genau die Menge Käufer ab, mit denen es den Händlern in der Friedrichstraße besser ginge.

Bei Maßschneider Kuhn bestellt ein Kunde einen Anzug für seine Hochzeit. Eine Glanzbroschüre über eine „brillante Allianz“ liegt aus: Das Manager Magazin Suit präsentiert einen besonders edlen Anzug von Kuhn. „Wir arbeiten nur auf Bestellung“, sagt die Dame, die bei dem Mann gleich Maß nehmen wird. „Touristen brauchen keinen Maßanzug.“ Ein wirklich eindrucksvoller Laden, aber 50 Prozent auf ein zweites Teil gibt es hier auch. Zwischen 20 bis 30 Prozent der Geschäfte auf der Friedrichstraße stehen heute leer.

Händler auf der Friedrichstraße: „Dussmann ist unsere Rettung“

Mitte der Neunziger beeindruckten Neubauten, Luxusgeschäfte, Repräsentanzen bekannter Bekleidungsmarken und das große Volkswagen Group Forum. 1997 eröffnete Dussmann das Kulturhaus – über 7000 Quadratmeter Verkaufsfläche in fünf Etagen, sieben verschiedene Abteilungen. Viele Mitarbeiter besitzen den Status eines „Leitenden Angestellten“.

So durften die gesetzlich eingeschränkten Öffnungszeiten ausgeweitet werden – der Besucher kann sich Montag bis Freitag von 9 bis 24 Uhr und Sonnabend von 9 bis 23.30 Uhr durch das Haus und ein schönes Café-Restaurant hinter dem vertikalen Garten treiben lassen. Die meiste Zeit ist es voll. „Dussmann ist unsere Rettung. Wegen Dussmann kommen immer noch viele Leute her.“ Das höre ich von Händlern.

Stephan von Dassel von Bündnis 90/Die Grünen ist seit Oktober 2016 Bezirksbürgermeister von Mitte. Auf die Frage, was er in Mitte zu bestimmen habe, sagt er „Nichts!“ Macht habe er über Verkehr und öffentlichen Raum, wobei das Wort „Macht“ übertrieben wäre. Und sein Einfluss ende sowieso am Checkpoint. Er hat keine Möglichkeit, Fehler der Immobilienhändler und Geschäftsleute auszugleichen, wenn deren Segment nicht funktioniert. „Wir können nur Ratschläge geben.“ Stephan von Dassel will ältere Pläne aufgreifen: die Umwandlung von Teilen der Friedrichstraße in verkehrsberuhigte- oder in Fußgängerzonen. Einen Testlauf gab es schon.

„Es gibt keine einzige Friedrichstraße, man läuft durch drei Welten“

Eine gewisse Ergänzung zum Bürgermeister ist Guido Herrmann, der Vorstandsvorsitzende von DIE MITTE e.V. Der Verein fördert wirtschaftliche Unternehmen und will ein Ansprechpartner für die öffentliche Verwaltung sein. Sein Geld verdient Herrmann als Verwaltungsdirektor des Friedrichstadtpalastes, die Arbeit im Verein ist ein Ehrenamt.

Guido Herrmann sieht zu viele Bauwände, Absperrungen, Einengungen, nicht endenwollende Baustellen wie die der U-Bahn. Der Mann kann sich aufregen. „Alle bauen. Aber mit welchem Ziel? Was will der Staat mit seiner Mitte? Definiert doch mal Plätze, bevor ihr Straßen definiert!“

Die meisten Entscheider saßen 1990 nicht in Berlin. Man müsse jetzt nachdenken und auch mal Stop sagen. Es gibt 34 Einkaufszentren. Aber die Leute kaufen lieber in Straßen ein: „Lauf und kauf!“ Ich frage, was aus der Friedrichstraße wird. „Es gibt keine einzige Friedrichstraße, man läuft durch drei Welten.“ Das Stück bis zum Bahnhof, das danach und das hinterm Checkpoint. Mal sehen.

Checkpoint Charlie

Der Checkpoint Charlie.

Foto: A. Strebe

Weltkrise am Checkpoint

Kurz nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 kommt es an der Grenze zwischen dem sowjetischen und amerikanischen Sektor zur Konfrontation. Amerikanische und sowjetische Panzer stehen sich am 27. Oktober 1961, keine 200 Meter voneinander entfernt, am Checkpoint Charlie gegenüber. Ostdeutsche Grenzposten haben ein paar Tage zuvor US-Staatsbürgern, auch Soldaten in Uniform und Diplomaten mit international anerkannter Immunität, den unkontrollierten Zugang nach Ost-Berlin verweigert. Damit wurde der Vier-Mächte-Status verletzt.

Nach Gesprächen in Washington zwischen Justizminister Robert Kennedy und einem Vertreter des sowjetischen Militärgeheimdienstes ziehen sich die Panzer am nächsten Vormittag im Rückwärtsgang zurück. Sechzehn Stunden haben zwei Atommächte ihre Geschütze aufeinander gerichtet. Nie zuvor, so heißt es seitdem, sei die Welt so nahe am dritten Weltkrieg gewesen wie damals.

Den Checkpoint kenne ich. Aber ich kannte noch nicht „Die Mauer“, das Panorama von Yadegar Asisi gleich daneben. Auf 900 Quadratmetern gestaltete der Künstler als „Realitätsinszenierung“ das Leben an der Mauer von Westen aus. Maßstab 1 zu 1. Etwas nicht mehr Vorhandenes wird zu einer überwältigenden Illusion von Gegenwart.

Hinter der alten Grenze folgen Ein-Euro-Shops, Krambuden, Geldwechsel, Spielcasinos. Aber am U-Bahnhof Kochstraße glitzert seit 55 Jahren „Italienische Lebensart“ – Möbel und Accessoires. Stoffmuster wie von Versace, überall Gold und Glas. Ausschließlich italienische Hersteller schaffen die reine Pracht. Der Laden hat seinen hohen Bekanntheitsgrad durch das Spezielle.

Zwischen Sterneküche und Vulva-Ausstellung

Vor dem nächsten Geschäft habe ich Hemmungen. Man muss klingeln und im Schaufenster hängen große, detailgetreue Vulven: weibliche Genitale. Und dann heißt der Laden auch noch Nobelhart&Schmutzig. Aber das im Fenster ist eine erfolgreiche Ausstellung von zwei Künstlerinnen.

„Es lebe die Vulva. Ohne Scheu, ohne kritischen Blick. Wir setzen uns für einen unverkrampften Blick auf den menschlichen Körper ein“, sagt der Chefkoch Michael Schäfer. Er hat noch etwas Zeit, das Lokal mit Michelin-Stern wird um 18 Uhr öffnen. Die Küche ist radikal regional, alle Produkte bekommen die gleiche Wertschätzung. Die Gäste essen an einer Theke mit 28 Plätzen, die reserviert werden müssen – sie sind hier seit dem ersten Tag ausgebucht. Es gibt immer ein einheitliches Zehn-Gänge-Menü, das um die 100 Euro kostet.

Nicht viel weiter wird aus der Friedrichstraße eine Fußgängerzone vor dem Mehringplatz, einem Rondell. Drumherum stehen mittelhohe Häuser, Nachbarn sitzen draußen, es ist still. Der Platz wird gerade von Landschaftsarchitekten neu begrünt und mit Natursteinen gepflastert. Ich denke, dass er einer der schönsten Orte auf der Friedrichstraße werden kann.

Das Spezielle hat immer Chancen auf der Friedrichstraße

Ich gehe auf der anderen Seite zurück, auf der es weniger Leerstand und viele soziale Einrichtungen gibt. Das längste Haus ist dann das Arbeitsamt. Am Checkpoint wollen drei Männer und eine Frau, deutlich erkennbar sind sie Ausländer, lauthals die Mauer zurück. Sie sind Schauspieler einer freien Theatergruppe und testen die Provokation vor Publikum. Bei Neuhaus Chocolates duftet es nach belgischer Schokolade. Die Kreationen sind erstaunlich.

Das Spezielle hat immer Chancen auf der Friedrichstraße, immerzu kommen Kunden. Und das Schöne: Jeder geht mit einem Leckerli raus. Ich auch. Der Gang unten durch die drei Quartiere ist dann trostlos. Verhangene Schaufenster, lange leere Gänge. Oben arbeiten Privatpraxen von Medioclinic. Ein Freund sitzt hier in einem Anwaltsbüro. Die Kanzlei zieht demnächst in die Nähe des Hauptbahnhofs.

Damals waren es Droschken, heute sind es die Autos

Heute ist ein kalter Tag. Bei den Bekleidungsketten Zara, Gina Tricot, Marc O’Polo, COS stehen die Türen weit offen – als ob die Geschäftsführer ihren Kunden die kleine Mühe eines Klinkendrucks nicht zumuten wollen. Dafür zittern die Verkäuferinnen vor Kälte oder verstecken sich irgendwo hinten. Pretty Ballerinas ist geschlossen, das Navyboot Outlet auch. Vor H&M liegt eine große Baustelle.

Früher ging das Volk zu Fuß, aber irgendwann waren auch dem einfachen Mann Pferdedroschken erlaubt. 32 Pferdebesitzer hatten etwa ab 1814 Genehmigungen, an bestimmten Orten auf Abruf zu warten. Der erste Standplatz befand sich an der Stelle der heutigen Schauräume von Volkswagen. Friedrich Engels wohnte da während seiner Militärzeit zwischen 1841 und 1842 und erkannte eine Schwachstelle: „Vor meinem Fenster liegen eine Menge Droschken und halten ihr Standquartier daselbst. Die Droschkiers sind gewöhnlich besoffen und amüsieren sich sehr“, schrieb er seiner Schwester Marie. Und heutzutage gibt es zu viele Autos.

Von Regine Sylvester

bottom of page